Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 308

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I

Wer das politische Gedankengut der Partei „Proletariat“ richtig verstehen und einschätzen will, muß von vornherein davon ausgehen, daß diese Partei ihrem Programm nach nicht einheitlich gewesen ist, sondern daß sich ihr Programm und ihre Richtung aus zwei verschiedenen Elementen zusammensetzte: dem Einfluß des Westens und dem Einfluß Rußlands, der Theorie von Marx und der Praxis der „Narodnaja Wolja“.

Die gesellschaftlichen Bedingungen des Königreichs[1] in den achtziger Jahren waren eine durchaus günstige Grundlage für eine Arbeiterbewegung im europäischen Sinne dieses Wortes. Das Aufblühen der Industrie nach dem Zusammenbruch des letzten Aufstandes[2] und nach der Bauernreform[3] vollendete den endgültigen Triumph des Kapitalismus sowohl in der Stadt als auch teilweise auf dem Lande. Die Theorie von der organischen Arbeit[4] entfernte aus der Gesellschaft die Reste der aristokratisch-nationalen Ideologie und leitete die gesellschaftliche und intellektuelle Herrschaft der Bourgeoisie in einer so nackten Form ein wie in keinem anderen Lande. Die modernen Klassengegensätze, die ökonomische Besonderheit und die gesellschaftliche Bedeutung des Industrieproletariats traten sichtbar zutage. Die objektiven Bedingungen, von der Marxschen Lehre als Grundlage angenommen, waren also im Königreich in jeder Hinsicht in hohem Grade entwickelt, und folgerichtig stellte sich das „Proletariat“ in der gesamten Begründung seiner sozialistischen Bestrebungen auf den Boden des Marxismus.

Bewußt und deutlich spricht das der im Jahre 1882 herausgegebene „Aufruf des Arbeiterkomitees der sozialrevolutionären Partei ‚Proletariat‘“ in seinem zweiten Abschnitt aus:

„In der allgemeinen Entwicklung der europäischen Völker bildet unser Land keine Ausnahme: Seine vergangene und gegenwärtige Ordnung, die auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht, gibt unserem Arbeiter nichts als Not und Erniedrigung. Unsere Gesellschaft trägt heute alle Merkmale der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung in sich, obwohl das Fehlen politischer Freiheiten ihr ein abgezehrtes und krankhaftes Aussehen verleiht. Das ändert jedoch nicht den Kern der Sache.“[5]

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[1] Königreich Polen: Im Ergebnis der drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 waren die Westgebiete an Preußen und Galizien samt Krakau an Österreich gegangen, das sogenannte Kongreßpolen bzw. „Königreich Polen” wurde auf dem Wiener Kongreß von 1815 in Personalunion mit Rußland verbunden. Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 behandelten die zaristischen Behörden jedoch die annektierten polnischen Gebiete nicht mehr weiter als »Königreich«, sondern als bloße Provinzen, die sie administrativ aufspalteten. Die Bezeichnung „Polen“ wurde verboten und nur noch vom „Weichselland“ gesprochen. Zugleich wurde eine Politik der „Russifizierung“ verfolgt. – Im Ausland galt »Kongreßpolen« weiterhin als Synonym für den russisch besetzten Teil Polens. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hingegen zogen den Begriff vom 1867 aufgelösten »Königreich Polen« vor, der einerseits die Gleichberechtigung Polens gegenüber Rußland betonte, andererseits die Unabhängigkeit von den Signatarmächten des Wiener Kongresses – „Kongreßpolen“ – signalisierte. Dementsprechend nannten sie ihre 1893 gegründete Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP). 1900 wurde daraus die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens“ (SDKPiL).

[2] Eine Welle von Bauernerhebungen 1860/61 führte zum Volksaufstand vom 22. Januar 1863 im Königreich Polen, in Litauen, Belorußland und Teilen der Ukraine gegen nationale und soziale Unterdrückung, der 1863/64 blutig niedergeschlagen werden konnte, weil keine nationale Führung bestanden hatte.

[3] Siebe Bd. 1/1, S. 43, Fußnote 1.

[4] Das „Programm der organischen Arbeit“ wurde im Juli 1876 von Vertretern der Intelligenz und der liberalen Bourgeoisie veröffentlicht.

[5] Z Pola Walki, Genf 1886, S. 27. [Fußnote im Original]